Montag, 26. Oktober 2015

Wen ich heute sah

Meine Kinder,
meine Frau,
Eine fremde Mutter mit ihrem Kind auf der Straße,
Fremde, auf dem Boulevard neben dem Springbrunnen,
Eine Kollegin, die eine Woche in Urlaub war und mürrisch grüßte,
Eine Kollegin, die an ihrer Aufgabe verzweifelte,
Einen Kollegen, der glücklich war, dass er eine wichtige Aufgabe übernehmen durfte,
Einen Chef, der glücklich war, dass ich zu müde war, seine Quizfrage zu beantworten,
Einen Kollegen, der ein neues, teures Hollandrad gekauft hatte,
Fremde auf der Straße im Friesenviertel,
eine schöne Frau,
Eine Bedienung, die zu lange brauchte, um mich zu bedienen, ich ging wieder,
Eine Bedienung in einem Asia-Imbiss, die lange brauchte, mich zu bedienen,
Am Nachbartisch ein Türsteher mit brutalem, aber interessantem Gesicht,
Ein Autofahrer, der mich im Schlagschatten des Norman-Foster-Baus beinahe übersah,
Einen britischen IT-Experten, der mehrere Mitarbeiter in eine neue, komplizierte Software einwies,
die es erlaubt, fortan sämtliche finanziellen Transaktionen aus Übersee zu kontrollieren,
Eine Radfahrerin, die mich beinahe umfuhr, weil bei Rot ging,
Mein Sohn, der an mir hochsprang, mich umarmte,
Der andere Sohn schlief bereits,
Meine Frau mit verschränkten Beinen im Kinderzimmer-Sessel, zu erschöpft, um zu
grüßen.






Samstag, 24. Oktober 2015

Etwas ist anders

Etwas ist anders als früher.

Etwas scheint möglich zu sein.

Etwas zieht uns in einen Strudel
hinab.

Niemand scheint einen klaren Gedanken fassen zu können.

Eine Schuld löst sich ein

und

wiederholt sich.


Wir sind verflucht.






Mittwoch, 21. Oktober 2015

Frage

Mein Kleiner, er will nie die
Zähne putzen.

Erst sträubt er sich, schreit, wirft sich auf den Boden.

Nach geduldigem Zureden, das in der
Regel
nichts nützt,
trage ich ihn dann ins Bad,
er lacht, ich
nicht.

Wir putzen die Zähne, er will es so kurz wie möglich halten,
man muss ihn umklammern.

Ich erkläre, dass im Mund winzige Bakterien sind,
die an seinen Zähnen knabbern,
in der Nacht.

Er schaut mich zweifelnd an.

"Sind die böse?"

"Nein, aber die sind da und die machen deine  Zähne kaputt."

"Also machen die was Schlechtes?"

"Ja, kann man so sagen."

"Warum gibt es die?"





Dienstag, 20. Oktober 2015

Be cool

nothing
can phase you,
nothing 
can erase you.

Except god
who,
of all beings,
demands not 
to doubt
him.





Sonntag, 18. Oktober 2015

Ich denke an dich, Mutter

Jetzt ist sie in einer Klinik.

Ohne, dass sie eine akute Diagnose hätte.

Sie braucht die Zuwendung dieser fremden
Menschen
christlicher Zugehörigkeit,
obwohl sie die Kirche und die Bibel nicht mag
und
sich als
Buddhistin
bezeichnet.

Ich hoffe,
die Christen dort
lassen sie nicht hängen,
wenn sie an diesem kalten dunklen
Sonntagabend
allein
in einem kleinen Zimmer,
in dem nur der
Fernseher
bläulich flackert,
sitzt
und sich leid tut,
weil niemand angerufen hat.

Ich hoffe, sie lassen sie nicht hängen,
wie es alle
anderen taten.

Immer und immer wieder.



Samstag, 17. Oktober 2015

Frankfurter Buchmesse

Niemand,
den ich hätte treffen oder sprechen wollen
in diesen
längst nicht endlosen
Gängen mit
Bücherbuden.

Keine Geistesgrößen
da.

Langmähnige Frauen in Lederstiefeln,
die von komplizierten Lieben
in Israel
erzählen
oder davon,
dass Kinder
generell
Scheiße
seien.

Bei Suhrkamp eine schwarz-weiße
Fotogalerie
steinalter Männer,
die einst dem Land die Richtung
wiesen,
und deren Geist,
ertränkt in Rotwein und
süffiger Selbstgefälligkeit,
nur noch um die Sicherung des
Nachruhms und die
Abwehr der Gegenwart
kreist.

Wo ist die Jugend?

Ein Rockpoet in Jeans und T-Shirt,
schon etwas peinlich für Anfang Vierzig,
der auf der FAZ-Bühne
mit
matter Stimme
Anekdotisches
von sich
gibt
für die bebrillten Lockköpfchen aus den
Kulturredaktionen.

Reihen um Reihen evangelischer
Missionierungsschriften,
Christus
würde die schmierig grinsenden Verkäufer
prügeln.

Heraus
stach der Stand einer politisch unangenehm
rechten
Publikation,
wo eine blonde,
vollbusige,
tief dekolletierte deutsche
Studentin
Schriften
gegen Andere
feil bot.

"Einzig frischer Anblick",
registrierte ich erschrocken.

Deutschland,
sei wachsam!



Claire

Claire,
I wish,
I wasn' t so
smart.

I wish,
I couldn' t see through you like
glass.

I wish I' d fall for your
amazing
Parisian
charme.

"How can one not fall in love with you?"

But if you made
the
first move,
I' d probably
pass

out.



Lucy

Mit gesenktem Kopf und
leisem
Lächeln,
aus dem
Bitterkeit und
Weisheit sprachen,
forderte sie mich auf, mich
zu setzen.

Sie redete kaum, während ihre langen, kräftigen Finger
begannen, mich zu
massieren.

Sie erwähnte, dass sie aus Äthiopien stammte.

Die gleitenden, gleichmäßigen, dann wechselweise wieder sanften und fordernden
Bewegungen ihrer Hände
setzten meinen Körper von Kopf bis Fuß
unter Strom.

Tiefe Entspannung stellte sich ein, gleichzeitig
durchströmte mich nie erlebte
Energie.

Gleichmütig
sprach sie die Erektion, die sich
bei solcher Gelegenheit zum allerersten Mal überhaupt
in meinem Leben
bei mir
aufbäumte,
mit keinem Wort an.

Erotische Urmutter der Menschheit,
die mich in einer kurzen Nische des
des harschen Daseins
an diesem eisigen Regentag im Frankfurter Bahnhofsviertel
zu den Wurzeln unseres
Seins
zurückführte...

...beschrieb ich sie hilflos in
Gedanken.

Ihre Stimme fragte weiter
nach meinen Wünschen und meinem
Begehren.

Sie ließ nicht ab,
bis
uns schließlich
eine tiefe, rätselhafte
Vertrautheit
verband.

Ich war bereit für den eigentlichen Akt.

Mit einem Handtuch trocknete sie meine Haare,
hüllte mich in einem Umhang, geleitete mich zu ihrem
Arbeitsplatz und fragte,
ob sie die Ohren
frei
lassen solle.





Samstag, 10. Oktober 2015

Es tut mir leid

dass ich das sagen muss,
aber ihr langweilt
mit Eurem Stuss.

Eure Witze - ohne Haltung, ohne Charme,
Eure Seelen leer,
Eure Leben
arm.

Immerhin
verurteil´ ich mich
am meisten,
und kann´ s mir ja auch eigentlich nicht leisten,
dass ich häufig richte
und viel zu selten
dichte.

Reminder:
stop judging -
start living.




Donnerstag, 8. Oktober 2015

Social media

Ich "postete" etwas.

Sah mein Foto von früher
links im Bildschirm,

Ein Freund von früher antwortete.

Der gleiche Humor wie früher.



Wir frieren den Stillstand ein.



Und sterben.





Dienstag, 6. Oktober 2015

Klugheit Weisheit

Ich wär gern so viel klüger
als ich es bin.

Müsste mehr lesen
- die großen Denker.

Aber meine Kinder,
lassen mir nicht Zeit.
So verzichte ich aufs Wissen,
und begnüge mich
mit...
Weisheit.





Robin Hood

Der Große
hatte das Buch selbständig weiter gelesen,
nachdem ich ihm
den Anfang
vorgelesen hatte.

Er mochte die Geschichten von Kameradschaft,
Außenseitertum, Abenteuern.

Er mochte Robin Hood.

Irgendwoher müssen Werte ja kommen.

Er hatte bis kurz vor Schluss gelesen,
und hatte mir erzählt, dass alles gut ausgegangen war, er müsse jetzt nur noch die
letzten Seiten lesen.

Ich ging ins Wohnzimmer und las in einem Internet-Nachrichtenportal.

Wenig später kam durch den großen Raum in seinem Schlafanzug auf mich zu.

Verstört.

Mit Tränen in den Augen.

Empört, erschüttert.

Robin Hood wurde von einer Frau vergiftet und sein Freund kann ihn nicht
retten.

Ich ging mit ihm in sein Zimmer und las mir das Ende, das ich schon vergessen hatte,
durch, dachte nach
und erklärte,
dass es ein unnötiges Ende war.

Es wirkte wie nachträglich hinzugefügt, damit die
Geschichte in Erinnerung
bleibt.

Er sah mich an und wischte sich
die Tränen ab.

Er wird diese Geschichte nie vergessen.





Sonntag, 4. Oktober 2015

Tag der Einheit

Die Sonne blendete
am Fluss.

Wir,
die Frau, die Kinder, weitere Verwandte,
spazierten
am grell beschienen Kölner
Rheinufer
entlang
Richtung
Mülheimer Brücke.

Vorne warfen die Kinder Steine in den Strom,
hinten lästerten die Frauen,
die Männer gingen schweigend und im gebührenden Abstand
ziemlich Fremder
auf gleicher Höhe.

Es roch modrig, das niedrige
Wasser
hatte gärende Pfützen zwischen den glatt geschliffenen Kieseln hinter-
lassen.

Eine fette Frau in einem engen Sportdress machte Kickboxbewegungen,
jemand filmte sie mit einer
hochgerüsteten
Fotokamera.

Wir kamen zur Brücke und die Kinder bemerkten, dass das Brückengrün
abblätterte
und der Stahl marode
wirkte.

Wir aßen beim Türken,
das Fleisch war saftig und frisch
und perfekt würzig gegrillt.

Einer maulte, dass es kein Bier
gab,
die Stimmung blieb gedämpft und
die dramatischen Gesänge mit den orientalischen Tonfolgen,
aus den Lautsprechern
quälten die
banausigen Kinder.

Die Frau wollte mit der Fähre nach Hause,
die Verwandten mit der Bahn zu ihrem
Wohnmobil auf dem Campingplatz,
die Kinder wollten ein Taxi nehmen.
Ich hätte auch wieder laufen können
- wir teilten uns auf.

Als ich das Restaurant verließ,
war ich einen Blick zurück auf die türkischen Familien,
einig an langen Tafeln,
zumindest am
Feiertag.





Köln

Wir stehen auf der Mülheimer Brücke im gleißenden Oktoberlicht,
schauen bis zum Dom,
die Augen zusammen gekniffen,
aber
mein ältester Sohn will wissen, wie viele Meter
es sind bis unten, wo die
Schiffe ziehen,
ich sage, "20 vielleicht".

Der jüngere schaut nach oben:
ein Flieger.

Und, ja,
er hat Recht:
aus allen Richtungen
Straßen,
Schienen,
Luft- und
Wasserwege
in die
graue, fröhliche, schmutzige Stadt am ewig gleichgültig schnell
vorbei strömenden
Strom.

In Köln schaut man nicht nach unten.