Freitag, 12. Februar 2016

Der alte KZ-Wachmann

Einfältig sieht er aus,
der 94jährige, der
KZ-Wachmann
in Auschwitz war und nun angeklagt ist,
mitschuldig zu sein am Tod von
170.000 Menschen.

Er tut mir leid.

Dass er nicht gestehen kann.

Hingegen sein Opfer, der Gequälte, der erleben musste, dass dieser
Mann seine Familie ins Gas geschickt hat,
ebenso alt, aber
immer noch wach,
immer noch klug,
immer noch lebendig.

Er berichtet von einer schönen Kindheit mit Musik und Sport.

Es scheint, dass es fast nichts Wichtigeres und Erfüllenderes gibt
für einen unglücklichen Menschen, als glückliche
Andere
zu töten.





Dienstag, 9. Februar 2016

Gedicht auf Leben und Tod

Als mein Vater auf der Intensivstation im Koma lag und es danach aussah,
dass er niemals wieder ein funktionierendes Gehirn haben würde,
fragten die Ärzte uns nach einer Patientenverfügung.

Gab es nicht.

Dann fragten sie uns, ob sie ihn reanimieren sollten,
im Falle eines erneuten Herzinfarkts.

Wir stritten.

Meine Mutter war dagegen.
Meiner Bruder war dagegen.
Mein anderer Bruder auch.
Meine Frau sagte, sie hätten Recht.

Ich war der Einzige, der Hoffnung hatte.

Und sei es die Hoffnung auf Heilungsmethoden, von denen wir
jetzt
noch nichts wissen.

Wenige Tage später starb mein Vater an
Nierenversagen.

Was ich nun immerhin weiß:
niemand würde mich zurückholen oder die Last auf sich nehmen, mich
am Leben zu lassen,
sollte mir etwas Ähnliches wie meinem Vater zustoßen.

Meine Mutter nicht.

Mein Bruder nicht.

Mein anderer Bruder nicht.

Meine Frau nicht.

Meine Söhne schon, aber die sind zu jung.

Und eine junge Muslima, der ich mich verbunden fühle,
obwohl unsere Körper einander nie näher gekommen sind als beim Händedruck
zur Begrüßung.

Sie sollte von diesem Gedicht erfahren.





Montag, 8. Februar 2016

The Final Cut

Immer, kurz bevor der Winter
endgültig den Frühlingsstürmen
weicht,
entzünden sich die Nagelbetten meiner Zehen.

Das war schon so, als ich Kind war
und Jugendlicher.

Mit 15
brachte mich meine Mutter zu unserem
Hausarzt, einem freundlichen alten Mann,
der meinen großen Zehennagel
mit einer Art metallischen Winde aus der vereiterten Wurzel riss
und dann ganz
herauszog.

Ich schrie wie am Spieß, keine Betäubung konnte diese Schmerzen
dämpfen.

Die Tränen unterdrückend zwang ich anschließend meine Mutter ins örtliche Karstadt
und bettelte lange, bis sie mir endlich Pink Floyds
"The Final Cut"
Album kaufte.

Blut sickerte aus meinen Schuhen auf den Linoleumboden
in der LP-Abteilung.

Ich spürte den Hass meiner Mutter.
Erst musste sie miterleben, dass ich solche Schmerzen zu ertragen hatte,
obwohl ich doch wissen sollte, dass sie das
belastet
und dann nutzte ich ihre Güte aus und sie musste mir eine LP kaufen. Was  in ihren Augen das Überflüssigste war,
was ein Mensch besitzen konnte.

Es war dann aber tröstlich zu hören, dass Roger Waters wohl noch größere
Schmerzen
zu ertragen hatte,
als ich.





Die Araber

von meinem Kiosk
haben beide große traurige braune Augen,
sind klein und sehr ruhig.

Einmal kamen türkische Jugendliche in den vollgestopften
Laden
und schrieen "Scheiß-Araber",
immer wieder.

Die Araber hinterm Tresen bewegten sich nicht,
schauten auf ihren TV-Schirm oben in der Ecke mit den arabischen
Nachrichten.

Sie sind immer hinter dem Tresen.
Sie verkaufen alle möglichen Zeitschriften, die sie niemals lesen.

Sie sind nicht
interessiert.

Sie sind Gott etwas näher als der Rest der Stadt.

Sie erwarten nichts, außer, dass man das, was man kauft, zahlt.

Ich stelle mein Vittel-Flasche auf den Tresen
und lege eine Tüte Nüsse dazu.

"Fünf Öro Swanschisch."




Sturmtief

Wir verwehen.
Wie Bonbonpapiere,
die in karnevalstrunkenen Straßen von sonnenhellen Sturmböen
hochgeschleudert
werden.

Im dröhnenden Himmelsblau ein wenig umherglitzern und ruckartig für immer
verschwinden.

Mein guter Vater, der gütig und klug uns beschützte und sein Haus sturmfest machte, als ich die erste Auszeichnung meines Lebens bekam,
mein guter Freund und Produzent, der mich vor allzu provokanten Torheiten bewahrte und nicht zu stolz war, mich nach Geld zu fragen,
mein Bassist, frei, psychotisch, verrückt, weise, mit seinen stinkenden Zahnruinen
mein Gitarrist, mit seiner Sehnsucht nach den eleganten New-Wave-Jahren in München,
meine liebe Oma, die bei Karstadt nach dem Krieg Bettwäsche verkaufte, mir Sahnebonbons gab, Karl May Bücher und seltene Briefmarken, die verschwunden sind,
meine Schwiegermutter, mit ihrer einfachen Gläubigkeit, ihrem unbeugsamen Willen, ihrem originellen Witz und ihrer Güte,
mein Schwiegervater, ein stolzer Mann um den hunderte Dorfbewohner weinten,
mein Freund der Dorfrocker, der Blut hustete, der Friedhof blau von Rockerkutten,
der größte Gitarrist aller Zeiten, der mich umarmte, weil niemand sonst ihn umarmte und einen seiner Hemdsärmel abriss und mir zum Abschied gab am Flughafen Schiphol
an einem sonnenhellen, stürmischen Februartag nach unzähligen durchwachten Nächten
zugebracht in einer Wand aus Lärm, Ausschweifung, Gelächter und Verzweiflung
-
tot.

The authorities say, my papers are in order and if I wasn' t such a coward, I would run.
Meet me on the other side of town.



Mittwoch, 3. Februar 2016

Nigger Jim

Louis CK did a stand up bit about it.

Reading Tom Sawyer
to his child
and leaving out the N-word.

I did the same reading Huck Finn to my son.

My son didn'  t realize it.

Thank God.

It' s not easy,
'cause it pops up about a million times
in this text
and  since my son can read,
I turned away
the pages
from him.

I managed.

I was proud.

And then, at 7.30 in the morning,
my son turns on the radio and
some singer
yells
NIGGER!!!!!!!
as an intro to a stupid pop song.

My son laughs his ass off.

That' s what he' s gonna yell in school all morning long.

Teachers will hate him.

He will fail all tests.

Girls will adore him.

He' ll be the alpha guy.

The alpha slave.

The top
nigger.



Im Flieger

Der Sauerstoff geht runter.

Die Frau neben mir schnarcht.

Alle hatten Termine.

Lesen iPads oder die kostenlosen Zeitungen,
die auch bald verschwunden sein werden,
weil nicht
digital.

Unten biegt sich Deutschland unter den knirschenden
Plastikflügeln.

Das Surren der Klimaanlage.

Turbulenzen.

Angeschnallt bleiben.

Schaler Tee im Pappbecher.

Müde Stewards.

Ehemals hübsche Stewardessen.

Das Land wird älter.

Wir arbeiten.



Karneval

Eins ist klar:
im Karneval geht es um Sex.
Ausschließlich.
Für alle über 16 auf jeden Fall.
Für Manager, Polizisten, Verkäufer, Krankenschwestern, Arbeiter,
Piraten, Clowns, Batmans, Star Wars-Kämpfer, Funkenmariechen,
Piloten, Stewardessen, Teufelinnen, Engelchen, Rut-wiieße, Soldaten,
Checkertypen, Hippebräute, Catwomen, Neger, Fantasiekostüme usw.
Es geht um Sex.
Alles geht.
Jeder mit jedem.
Millionen kommen genau deswegen her.
Saufen. Sex.
Jeder, wirklich jeder darf einmal im Jahr alle Hemmungen fallen
lassen.

Außer er
kommt aus
Nordafrika.



Montag, 1. Februar 2016

Telefonat mit der Mutter

Sie sei in der Klinik gewesen,
sie hätte einen Schwindel gehabt und
sich an der Wand abgestützt und dann hätte sie einen Rettungswagen
gerufen und wäre
Minuten später
in der Klinik gewesen,
wo man sie eine Woche da behalten hätte und durchgecheckt hätte,
CT, MRT, alles...

Sie sei absolut gesund.

Keine Anzeichen, die auf einen Herzinfarkt oder
einen Schlaganfall deuteten.

Mit den Beinen müsse sie etwas tun.

Wassereinlagerungen.

Nun ja,
sie sitzt 10 Stunden am Tag vor dem Fernseher,
isst ausschließlich fett und süß,
bewegt sich so wenig wie möglich.

Und mehr hat sie nicht?

Es ist ein Wunder.

Sie besucht ihre Kinder nicht, ihre Enkel nicht.

Sie ruft nicht an.

Sie schenkt ihnen hässliches, kaputtes, gebrauchtes Zeug zu Weihnachten und hofft,
dass es deswegen Streit gibt, aber ich sag', wir hätten uns gefreut,
danke, super,
toll.

Danke.

Und nochmals danke.

Das irritiert sie.

Sie will Krieg.

Sie spricht das Paket mehrmals an, entschuldigt sich, um Empörung zu bekommen.

Aber ich kann nicht mehr.

Ihre Sucht nach Streit.

Ohne Streit keine Nähe.

Andere Nähe ist nicht möglich.

Also keine Nähe.

Ich bin froh, dass sie lebt und möglicherweise richtig alt wird.

Auch wenn es niemandem etwas nützt.

Am wenigsten ihr selbst.





Bowie

Somewhere
I' ve read,
that back in his early
days in
London,
he used to sit in a teahouse
near Waterlow Park
in Highgate (not the 
rich part of Highgate)
and write.

Moments of peace at the beginning of a great career.

I used to do the same.

Write.

Not knowing he was right there, decades earlier.

Somewhere 
I must have those poems.

Somewhere 
buried under
papers and more
poems.

That he also will never be able to
read.