Mittwoch, 29. April 2015

Asylant

In den Neunzigern
gab es schon einmal eine große
Welle
Asylsuchender.

Ich studierte und in den Semesterferien jobbte ich in meiner
Heimatstadt
im Hunsrück in einem Asylantenheim als
Betreuer.

Das Rote Kreuz hatte ein ehemaliges,
von den Nazis erbautes
Offizierskasino
für 250 Flüchtlinge
umgerüstet.
D.h. sie hatten Stockbetten rein gestellt
- und das wars.

Die Flüchtlinge kamen in Reisebussen.
Afrikaner, Iraner,
Kroaten, Serben, alle im gleichen Bus,
auf dem gleichen Gang, auf den gleichen Klos, in der gleichen Waschküche mit den beiden
permanent überfüllten
Waschmaschinen.

Die Kinder der
Roma schwärmten in das einzige Kaufhaus am Ort,
das kleinste Karstadt Deutschlands,
und klauten dort wie die
Raben.

Sie kamen dann immer mit
Kram beladen
zurück ins Heim gerannt,
die Polizei hinterher.
Aber am Eingang des Asylantenheims musste die Polizei stoppen.
Es gab ein Gesetz, das es der Polizei verbot, einfach so die Räume der
Asylanten
zu filzen.

Ein Iraner hatte mir seine Folternarben gezeigt, es waren die schlimmsten
Verletzungen,
die ich je gesehen habe. Mutwillige Verletzungen hinterlassen andere
Narben
als zufällige Verletzungen.

Ein Schwarzer namens Otto schrieb Songs mit mir.

In dieser Zeit war ich stolz, Deutscher zu sein.
Ich war Bürger des für diese
völlig verzweifelten,
rechtlosen
Menschen
besten Landes der Erde.

Später haben Nazikids aus dem Nachbarort
Feuer gelegt
in der Nacht, als ich
Wache
hatte.
Ich sah den Rauch im Ostflügel,
niemand war verletzt,
ich rief die Feuerwehr.
Die Polizei ermittelte, aber fand niemand.

Es war kein große Sache.
Die Presse brachte nichts, um die Stimmung nicht gegen die Flüchtlinge
aufzuheizen.

Die Bevölkerung spendete unglaubliche Mengen Kleidung.
Viel mehr als die Flüchtlinge hätten transportieren können.
Ein Keller, so groß wie eine Tiefgarage, voll mit Kleidern.

Bevor die Flüchtlinge hinein durften,
durften Mitarbeiter des Roten Kreuzes aus dem gesamten Landkreis rein,
auf Geheiß der Geschäftsstelle des
Roten Kreuzes.
Sie holten alles raus, was wertvoll war.
Lederjacken, Markenklamotten, Pelze, etc.

Da war er dann auch schon wieder vorüber,
mein kleiner patriotischer
Anfall.
Und ich fühlte mich wieder staatenlos.
Satt, sicher, einigermaßen gebildet, mit einem guten Pass, trotzdem:
staatenlos.





Dienstag, 28. April 2015

London

Ende der Neunziger,
sonntags auf dem Camden market,
nach einem Baked Beans Frühstück
auf der
Suche
nach Rock ´n Roll-
Bekleidung
und Verbündeten.

Helle Sonne, Backstein.
Die Ahnung, dass hier etwas war.

An manchem Stand noch eine Erinnerung an die Zeiten von
Stiv Bators,
Johnny Thunders,
Patti Palladin.

Sehr teure Kleider von Vivienne Westwood.

Tod,
Rock,
Sonne,
Einsamkeit,
Träume,
schöne Kleider,
seltsamer Sex,
rasch ziehende Wolken.

In der Dynastie folgten
Doherty,
Barat,
Winehouse.

Aber da war ich schon wieder
weg.






Montag, 27. April 2015

Ende und Anfang des Westens

Auf der Aussichtsplattform des Empire State Buildings.
Es war ein strahlender Wintertag -
eiskalter Wind, blauer Himmel -
New York in allen Himmelsrichtungen.

Unten die braun-graue,
hart die Sonne reflektierende
Backsteinwand von Macys
mit dem vertikalen weißen Schriftzug.

Bis zum Horizont
Siedlung,
Besiedlung.
Endlose Steinwüste, unterdessen
gealtert, immerhin sauberer und aufgeräumter,
altenfreundlicher
als früher
und immer noch nicht mit
vernünftigen
Heizungen ausgestattet.

Die Hauptstadt der Welt.

Melancholie ergriff mich,
als ich an die neueren, größeren, strahlenderen Städte Asiens dachte.
Ich war nun Teil von etwas, das
vorüber war.
Gewaltig immer noch, aber von gestern.

Nach dem erreichten Zenith im Abstieg begriffen.

Kurzweil und seine Bücher gaben mir den Rest.

Was wird das für ein Geschäft, wenn die
Unsterblichkeit
auf den Markt kommt!

Die Metropolen besiedelt von ewig existierenden, reichen Alten,
gesäubert vom
Abschaum.

Old York.






Sonntag, 26. April 2015

Faserland

als ich das Buch damals las,
etwas später als alle,
bemerkte ich
gar nicht die lautmalerische Doppelbedeutung des Titels.

Dass da auch "Fatherland"
drin steckte, war mir nicht klar!

Ich hatte es dem klugen Schreiber einfach nicht
zugetraut:
Das ist ein derart schwacher Witz,
den würde sich nicht einmal die
flachste deutsche TV-Comedy
erlauben.

Der Titel ist läppisch, mäßig lustig, ein bisschen clever,
mehrdeutig,
fordert Aufmerksamkeit.

Und so ist das Buch, dessen Methode zudem
im Ausland
geklaut
ist.

Very german also.

"Faserland" ist der Bordtreff.

"1979" ist das Meisterwerk.








Wunder

Tiefe Nacht.
Ich war bislang noch nie so spät wach
gewesen.
Ich hatte Licht im Zimmer gemacht und schaute rüber ins
Gitterbett,
wo mein verängstigter kleiner Bruder sich an den Gitterstäben festhielt.
Die Schreie unserer Mutter, die aus aus dem Schlafzimmer kamen,
waren erschütternd.
Sie drangen durch Wände und Türen.
Ich war sechs Jahre alt, mein jüngerer Bruder war drei.
Mein jüngerer Bruder weinte und ich versuchte ihn zu beruhigen.
Sagte, "Die Mama lacht, die weint nicht, die lacht!"

Dann kam mein Vater ins Zimmer, er wirkte euphorisch,
als hätte er ein Wunder gesehen und wollte uns davon berichten.
Wir sollten mitkommen ins
Schlafzimmer.

Das verstand ich überhaupt nicht.
Mein Bruder kam nicht mit.
Er versteckte sich unter der Bettdecke.

Ich stand mit meinem Vater in der
Schlafzimmertür.

Meine Mutter lag in der Mitte vom Bett und weinte, alles war voller Blut.
Sie hatte die Beine gespreizt.

Es sah grauenerregend aus.

Ein kleines, blutiges, hässliches Bündel schrie und schrie.

Es hing an einer dicken, langen Schnur an meiner Mutter.

Eine fremde Frau war im Zimmer. Sie war älter als meine Mutter.
Sie hielt mir eine Schere hin, ob ich die Schnur, die von dem Bündel zu meiner Mutter führte,
durchschneiden wolle.

Ich wollte nicht.

Mein Vater bedrängte mich, ich solle die Schnur durchschneiden.

Ich tat es nicht.

Er machte es dann selbst.

Sie waren alle sehr glücklich, es war maximal verwirrend.

Sie fuhren mir durch die Haare mit ihren blutigen Händen und waren froh.

Meine Mutter war so weit weg von mir wie noch nie.

Sie hatte mich nicht einmal angesehen.

Ich wollte zurück in mein Bett.

Mein Vater brachte mich zurück, blieb aber nicht
bei mir.

Später hörte ich Männerstimmen, die zur Tür rein kamen.

Irgendwann war Ruhe.

Heute vor 40 Jahren.





Freitag, 24. April 2015

Jogging

Früher,
also vor ungefähr 2 Jahren,
bin ich
früh morgens,
also gegen 9 Uhr,
im Grüngürtel
von Höhe Aachener Straße
bis Höhe Subbelrather Straße
und wieder zurück
gejoggt.

Das Laufen brachte meine Gedanken in Bewegung,
ich konnte über alles, was mich beschäftigte,
nachdenken:
die Frau,
Frauen,
die Söhne,
Schreiben,
Musik,
Schrecken der Erwerbsarbeit,
usw.

Sobald ich loslief,
sprudelten die Ideen und manchmal auch 
Lösungen 
für scheinbar ausweglose
Situationen.

Heute,
laufe ich morgens,
eigentlich nachts,
Neben der regengetränkten Wiese,
überspringe mühevoll
Pfützen,
sehe die schweren,
dunklen Wolken über die Stadt ziehen,
die Lichter der Fahrzeuge 
der Menschen, die zur Arbeit
strömen,
die Sonne,
die ab und an
durchbricht.

Und höre
die riesigen schwarzen Krähen auf dem Spielplatz,

Sie werden von Jahr zu Jahr 
klüger 
und 
furchtloser.





Güterzüge

Dröhnend queren sie die Stadt
auf einem breiten
Bahndamm,
vom Saturn bis weit hinter die Südbrücke.

Grollen und endloses
Rauschen in
Nacht.

Die gewaltigen Güterzüge
bringen Ferne,
transportieren
abertausende Container vom anderen Ende
der Welt quer durch Europa runter
nach Italien und wieder
zurück
mit neuer
Ware für das andere Ende
der Welt.

Morgens um 5 kommen besonders
lange, schwere Güterzüge.

Einer nach dem anderen.

Ich träume weiter und werde gleichzeitig
sanft erinnert,
dass dies noch nicht der
Ruheort
ist.

Es
woanders
weitergehen wird.






Mittwoch, 22. April 2015

Ideale Partnerin

wir sehnen uns nach dem
idealen Partner,
der idealen Partnerin.

Jedenfalls
die meisten.

Niemand würde sagen:
"Ich habe
sie/ihn gefunden,
endlich!"

Die anderen
würden einen hinterrücks
töten,
oder zumindest für das restliche Leben
verachten.

Aus Neid.

Weil sie bislang davon überzeugt waren,
dass es das nicht gibt.

Ein weiterer Grund,
in dieser Sache
öffentliche Bekenntnisse
zu vermeiden.




Montag, 20. April 2015

Der Held

Sein Leben - ein Rasen,
sagen alle.
Nach außen hin der ruhige Typ,
innen kochte es.

Die Eltern verstanden sich nicht.
Ständig Streit, Geschrei.
Der Held ging raus und raste im Kreis.
Auf der Kartbahn der Eltern.

Die Eltern trennten sich.
Sein geliebter Vater, der ihm alles ermöglichte,
seine geliebte Mutter, die ihm alles ermöglichte.
Er war es nicht wert,
dass sie zusammen blieben.

Er ging raus, raste im Kreis
und hörte nicht mehr auf.
Siebenfacher Formel 1 Weltmeister.
Der beste Autofahrer der Erde.
Es wurde gesagt, er habe eine Milliarde verdient.
Was ihm mehr bedeutete: eine liebende Frau, 2 gut geratene Kinder.
Er raste trotzdem weiter.
Auf Motorrädern, Pferden, Skiern und
an Fallschirmen
dem Erdboden entgegen.

„Die Sicherheit steht an erster Stelle“, sagte er.
Er warf sich dem Tod in die Arme und trug dabei einen Helm.
Der Tod fing ihn auf wie einen Ball,
der über den Zaun fliegt
und warf ihn zurück
ins Leben.

Er hörte auf zu rasen.

Und fing wieder an zu rasen.

Das Comeback -
seine Frau und die Kinder besuchten ihn in der Klinik.
Er schaute sie an. Blond, stark, schön – immer für ihn da.
Wie seine verstorbene Mutter.
Er fuhr noch einige Rennen, bis die Saison vorbei war und
hörte auf zu rasen.


Wurde Familienmensch, er war
da
für seine Frau und seine Kinder.

Ganz
normal.

Winterurlaub.
Im freundlichen Sonnenschein
schnallte er sich die Skier an.

Wedelte entspannt einen Berg hinunter.

Half auf halber Strecke einem Kind auf.

Fuhr weiter.

Glücklich –

er musste nicht länger rasen.
Er musste sich nicht länger


fürchten.






Sonntag, 19. April 2015

Der Künstler

Ein guter Freund von mir
ist Künstler.
Er hat einen
Namen
in Deutschland
und einen
Galeristen in
New York.

Er wollte nie enden wie sein Kunstlehrer,
der klein, grau und verkannt an der Schule unterrichten musste,
um Künstler sein zu können.

Man kann nicht sagen,
er wurde wie
sein Kunstlehrer.

Aber man kann auch nicht sagen,
er hätte mit seinen gefundenen, schwarz-weißen Fotos
ein einziges Leben so verändert wie der Kunstlehrer damals
das seine.





Samstag, 18. April 2015

Guter Tag

Morgens
mit den Kindern am Tisch, die Frau
kümmert sich um ihre eigenen
Dinge.
Die Kinder zum Lachen bringen,
kurz vor Aufbruch, dann wie immer Geschrei, Hektik,
dann gehen alle,
die Tür schließt sich,
Ruhe.

Wieder ins Bett legen.
Denken.
Draußen wiegen sich die Bäume im
Frühlingswind.
Vögel zwitschern.
Einschlafen.
Ins wohlige Traumreich
des Vormittagsschlafs
dringen von draußen Kinderstimmen
aus dem Park,
die Schulpause.

Mein Sohn ist zu sehen.
Seine blonden Haare flattern in der
Frühjahrssonne, wenn er den anderen davon rennt.

Duschen.
Essen.
Kaffe, Ei, Avocado.

Die Frau kommt.

Wir haben Sex.

Ich koche für uns.

Muss los.

Menschen treffen, mit denen ich über Film und
Literatur und Politik rede.

Man lacht.
Das Lachen, wie in solchen Gesprächen üblich,
eher sarkastisch,
abgeklärt.

Abends mein guter Freund Jan,
und meine Vertraute Julia, überraschend wie
Omen
einer Veränderung zum
noch Besseren
hin.

Wir landen auf einer Studentenparty.
Eine Designstudentin Mitte Zwanzig in schwarzem Kleid
die zu stark nach Egoist riecht,
erzählt von ihren Konzepten und Arbeiten.
Sie steckt dabei ihre Haare hoch.

Als ich früh aber nicht peinlich früh, wieder gehe
und nicht verpflichtet bin,
Drogen zu nehmen und sinnlose Affären zu beginnen,
sagt eine: "Auf Wiedersehen"
wie zu einem älteren Herrn.
Ich spüre eigenartigen
Stolz.

Ich leg mich zu Hause angenehm betrunken ins Bett,
schmiege mich an
die Frau.

und schlafe ein.





Donnerstag, 16. April 2015

Zigeunerin

Sarah
war bei mir in der 1. Klasse
damals,
auf der Grund- und Hauptschule.

Die meisten Kinder, die dort hingingen,
stammten aus einfachen, man könnte auch sagen:
armen und kaputten Familien
und Soldatenfamilien,
was ungefähr auf das Gleiche hinauslief.

In der Pause war es besonders schlimm.

Ich war ein schneller Läufer und konnte mich
in Sicherheit
bringen vor den Viertklässlern, die die Schwächeren verprügelten
und in den Mülleimer steckten.

Aber die Erstklässler waren auch gemein.

Zum Beispiel zu Sarah.

Sarah hatte dichte, lange schwarze Haare.
Sie trug Ohrringe.
Sie war hübsch.
Und sie schien aus einer Familie zu stammen, die nicht kaputt war.
Sie war anders.

Und die Anderen merkten das:

„Zigeunerin“
„Fotze“
oder auch
„Zigeunerfotze“

wurde sie genannt - in der Pause spielte niemand mit ihr.
Da ich auch niemanden hatte, stellte ich mich manchmal zu ihr.
Und wurde deshalb immer schon bald
in den Mülleimer gesteckt.

Ich wusste nicht, was die Wörter bedeuteten,
die sie zu ihr sagten.
Zigeuner kannte ich,
die kamen im Sommer und verkauften Teppiche und meine Eltern ließen sie
manchmal
in die Wohnung.
Ich verstand nicht, warum dass das ein Schimpfwort ist.
Das andere Wort kannte ich nicht.
Ich hörte es so oft – ich wollte es nicht kennen.

Sarah kam
trotzdem
jeden Tag mit offenen, schwarzen Haare und goldenen Ohrringen
In die Schule und
weinte nie.

Im Turnunterricht wurden ihre Sachen versteckt und sie musste in Ballettschuhen
in die Pause.
Sie wurde erst ausgelacht und dann
geschlagen
wegen der Schuhe.

„Zigeunerfotze!“
„Zigeunerfotze!“
„Zigeunerfotze, hahahaha!“

Ich stellte mir vor, dass ihr Eltern in einem Wohnwagen lebten und Teppiche verkauften und beneidete sie.

Aber nachdem ich mehrfach versucht hatte,
mit ihr zu sprechen
(Sie war wirklich schön!)
und immer wieder verprügelt oder in den
Mülleimer gesteckt wurde
(„Wer mit Zigeunern spielt, gehört in den Müll!“)
gab ich es auf, einen günstigen Moment
abzupassen und zu fragen,

ob das überhaupt stimmte,
mit den Zigeunereltern.

Später hatte ich keine Gelegenheit mehr dazu.

Sarah wechselte noch vor Ablauf des ersten Halbjahres
die Schule.






Mittwoch, 15. April 2015

Nacht

Eine Lüftungsanlage summt.
Dumpfe Schritte über uns.
Draußen die Stimmen der
Kiffer
im Park.
Die Vögel schweigen.
Ein Auto braust vorbei
in einiger Entfernung.

Es ist ungewöhnlich warm,
nach der wochenlangen
Kältewelle.

Die Kinder schlafen.
Die Frau schläft.

Ich tippe.

Wieso?





Dienstag, 14. April 2015

Stadtfrühling

Warme Frühlingsluft fegt über die Straßen,
kreischende Motorräder auf den Ringen,
Löwenzahn in vermüllten Grünanlagen.

Die Brunnen sprudeln.

Müde schleppe ich mich nach Hause.

Wie oft noch?




Montag, 13. April 2015

Grass muss sterben

Mein Deutschlehrer war am Gymnasium als beinharter
Faschist
verschrieen. Was keiner großen Anstrengung bedurfte
in den 80ern, als ungefähr jeder, der beim anderen Geschlecht punkten wollte,
Sozialist
war und jeder, der auch nur mit der CDU sympathisierte, nun mal als
Faschist
galt.

Er war ehemaliger Polizist,
der sich auf dem zweiten Bildungsweg zum Deutsch-
und Geschichtslehrer hoch gearbeitet hatte.
Kam er in den Klassenraum, riss er die Fenster auf und beklagte sich über die
faulen, gammeligen Schüler, die schon mit 16 alle nach Zigarettenrauch riechen würden.

Er hatte keine Freunde an der Schule.
Weder unter den Kollegen, noch in der Schülerschaft.

Er mochte allerdings die Romane und Gedichte von Grass und in der Oberstufe lasen wir die Blechtrommel.
Ich schrieb in einer
Kursarbeit alles über das Werk hin, was man dazu eben hinschreiben können
sollte,
und um ihn zu ärgern,
schloss ich mein 14seitiges Traktat mit einem alternativen Ende des Romans,
in dem der Autor selbst stirbt und das Oskarchen mit der Trommel um den
Toten tanzt und immer wieder krakeelt:
"Grass muss sterben, Grass muss sterben!"
- obwohl er doch da seinen fiktionalen
Tod schon gestorben war.

Der Lehrer gab mir die höchste Punktezahl, obwohl er Grass mochte
und schrieb drunter: "Du solltest Schriftsteller werden!"

Ich war empört, dies ausgerechnet von ihm empfohlen zu bekommen,
dem ich nichts glaubte, und
der uns
Sozialisten
nur quälte mit seinen Ansichten von der Welt.

Wir hassten Konservative und wollten alles ändern.
Demonstrierten gegen den NATO-Doppelschluss und sympathisierten
mit der
DDR.

Der verhasste Lehrer hingegen wettete mit einem der ebenfalls
sozialistischen
Deutschlehrer, dass Deutschland spätestens 1990 wiedervereinigt sein würde.
Es würde einen Volksaufstand geben, die Leute dort würden sich das alles
nicht länger bieten lassen.
Wetteinsatz: eine Kiste Kirner Pils
aus der Kirner Privatbrauerei Ph. & C. Andres GmbH & Co KG,
das damals ohnehin einzige in der Gegend verfügbare Bier.
Die ganze Schule lachte.
Der Lehrer kannte die DDR, da er immer wieder mit Schülergruppen dorthin
Reisen unternahm, von der Konrad Adenauer Stiftung teilfinanziert,
um uns
Sozialisten
zu zeigen,
wie es da wirklich
aussieht
und wie die Menschen dort
wirklich
denken.
Die ganze Schule lachte über diese idiotische Wette, die der verbiesterte Lehrer ohnehin
verlieren
würde.
Seine beiden Töchter, ebenfalls bei uns auf der Schule, wurden noch hartnäckiger von allen gemieden.

1992 bekam mein Deutschlehrer für seine Verdienste um die deutsche Wiedervereinigung
das Bundesverdienstkreuz.

Und der sozialistische Deutschlehrer starb an
Lungenkrebs.

Zu viele Selbstgedrehte.






Sonntag, 12. April 2015

Internet

das Furchtbare am Internet ist, dass es einem die Wahrheit erzählt.
Über alles,
was wir ahnten und einiges,
das wir uns nicht mal in unserem schlimmsten Alpträumen
ausgemalt hätten.

Wir müssen die
Presse
stärken,
wo es nur geht,
dass sie uns möglichst lange noch
erzählt,
dass alles vernünftig geregelt wird,
auch wenn dafür einige 100.000 Menschen sterben
aktuell.

Samstag, 11. April 2015

Theorie und Praxis

Als mein Vater nach einem
Herzinfarkt
auf der Intensivstation im Koma lag,
wollte uns der
Chefarzt
sprechen, er hätte eine Frage.
Ob sein Team im Falle eines erneuten
Herzinfarkts
den Vater reanimieren solle oder nicht.
Wir, die Familienangehörigen, hatten nicht so schnell eine Antwort
parat
und wollten uns
besprechen und am nächsten Tag
antworten.
Es stellte sich heraus, dass die Familie unterschiedliche Haltungen hatte.
Ich war
der Einzige,
der nicht wollte,
dass die
Hoffnung aufgegeben wird.

Vor allem
wollte ich wissen, was das eigentlich für eine Frage sei.
Wie oft denn nach einem ersten Herzinfarkt und dem Einsetzen des Stents,
der die Ursache des
Herzinfarkts beseitigt,
ein zweiter
Herzinfarkt folge?

"Eigentlich nie."
war die Antwort der total übernächtigten Intensivpflegerin, die seit
54 Stunden
im Dienst war und anfing zu weinen, weil sie mit den Nerven so runter war.

Ich fragte meinen Freund, der Krankenpfleger ist,
was diese theoretische Frage in der Praxis bedeutet und er sagte:
"Ist doch klar: wenn ihr sagt, ihr wollt das nicht, dann hat er halt in der kommenden Nacht einen zweiten Herzinfarkt und sie holen ihn nicht zurück.
So machen wir das hier auch."

Ich hatte verstanden.

Das also ist die Situation vor dem kommenden
Euthanasiegesetz.

Wenn dieses Gesetz,
ermöglicht durch jahrelanges Propagandadauerfeuer in Zeitungen, TV-Filmen, Kinofilmen, Büchern, etc.
erstmal durch ist,
werden wieder die
Gaswagen
von Haustür zu Haustür fahren.
Wie in Holland.
Nur diesmal eben von einem
selbst 
bestellt. Genial.

Und in den Kliniken ist endlich wieder
Platz.




Freitag, 10. April 2015

Der erste warme Tag

auf der Ehrenstraße
haben Mädchen sehr tiefe Ausschnitte
und tragen
knallenge
Jeans,
eine Gruppe junger Männer mit nach hinten gedrehten
Käppis
in einem aufgemotzten, röhrenden
Ford Taunus,
ich haste in meiner Nylon-Jacke
und einem
durchgeschwitzten T-Shirt
zu Gravis,
weil ich das Ladekabel für mein Handy
verloren habe.

Wie soll ich sonst meine Söhne und die Frau anrufen heute Abend?

Okay:
ich bin raus.




Donnerstag, 9. April 2015

La isla bonita

"Lange nichts gehört,
gehts euch gut?"
smst meine Mutter
aus ihrem vierwöchigen Urlaub 
auf Teneriffa.
Dem 15. in ungefähr 20 Jahren,
insgesamt hat sie 4 Jahre auf der Insel verbracht.

Sie hat meinen jüngeren Sohn noch nie besucht.
Und den älteren drei Mal angerufen in acht Jahren.

Schreibe ich zurück:
"Alles gut"
wird sie sich bestätigt fühlen
und niemals herkommen, es ist ja 
alles gut,
schreibe ich:
"Wir gehen auf dem Zahnfleisch,
die Kinder drehen durch, die Frau und ich haben nie Zeit
für uns, wir waren die ganzen Zeit krank, bräuchten mal Urlaub, haben aber kein Geld"
schreibt sie zurück, wir sollen uns 
schonen und vielleicht jemanden suchen, der uns 
entlastet.

Ich schreibe gar nichts.

Hätte ich etwas mehr Kraft, würde ich weniger
egoistisch
denken,
denke ich, 
genau
wie 
sie.






Mittwoch, 8. April 2015

Shelter from the storm

Am Schreibtisch.
Niemand sonst im Büro.
Draußen Backsteinbauten
und das neonbeleuchtete Parkhaus.
Unten klappern Türen.
Die Küche wird geschlossen.
Bald wird das Gebäude geschlossen,
in dem mein Büro 
liegt.
Die Mitarbeiter des Kinos gehen nach Hause.

Nur ich sitze noch hier oben unter
Neonröhren
und schreibe
dies.







Dienstag, 7. April 2015

Mutter

was der Anlass war,
weiß ich nicht mehr.

Sie weinte und schrie und war verzweifelt,
wie so oft.

Wir Kinder wussten nicht warum.

Später verstanden wir:
eigentlich gab es gar keinen Grund.

Sie weinte und schrie gern,
weil sich dann alles um sie drehte.

Das mochte sie.

Ihr Mann war nett und lange treu.

Zu lange, eigentlich.

Ihre Kinder gesund und wohl geraten,
wie man sagt.

Es gab ein Haus,
Geld genug für Urlaube,
niemals drohende Pleite.

Niemals!

Sie weinte und schrie und war verzweifelt.

Ich war allein mit ihr und musste stark sein und groß.
Ich war der Älteste.
Es war in der Küche. Die Eckbank, die Tür in den Flur, das kleine Küchenfenster,
der alte weiße Herd, die Wandverkleidung aus Plastik - 70er Jahre.

Sie weinte und schrie und mit einem Kloß im Hals nahm ich ihr das Versprechen ab,
dass sie sich nicht umbringen würde.
"Was auch passiert, Mama, versprich mir, dass du dich nicht umbringst."

Sie nickte unter Tränen.

Was für ein Triumph.





Montag, 6. April 2015

Vorzüge der Großstadt

an einem dunklen, viel zu kalten 
Januarmorgen.

Ich hatte gerade meinen älteren Sohn
in die Schule gebracht,
und fuhr mit dem Fahrrad
durch eine schmale Seitenstraße zurück nach Hause
in die 
Innenstadt.

Weiter vorne heftiges Gebrüll, Schläge!
Zwei Männer droschen brutal aufeinander ein.
Mitten auf der Straße.

Ich bog ab
in eine Querstraße.

Und sah und hörte nichts mehr, außer
Autos auf den Ringen,
verirrte Frühjahrsvögel,
Kinder an den Händen ihrer Mütter auf dem Weg zur Schule,
eilige, schwere Regenwolken,
Großstadtlichter.