Sonntag, 26. April 2015

Wunder

Tiefe Nacht.
Ich war bislang noch nie so spät wach
gewesen.
Ich hatte Licht im Zimmer gemacht und schaute rüber ins
Gitterbett,
wo mein verängstigter kleiner Bruder sich an den Gitterstäben festhielt.
Die Schreie unserer Mutter, die aus aus dem Schlafzimmer kamen,
waren erschütternd.
Sie drangen durch Wände und Türen.
Ich war sechs Jahre alt, mein jüngerer Bruder war drei.
Mein jüngerer Bruder weinte und ich versuchte ihn zu beruhigen.
Sagte, "Die Mama lacht, die weint nicht, die lacht!"

Dann kam mein Vater ins Zimmer, er wirkte euphorisch,
als hätte er ein Wunder gesehen und wollte uns davon berichten.
Wir sollten mitkommen ins
Schlafzimmer.

Das verstand ich überhaupt nicht.
Mein Bruder kam nicht mit.
Er versteckte sich unter der Bettdecke.

Ich stand mit meinem Vater in der
Schlafzimmertür.

Meine Mutter lag in der Mitte vom Bett und weinte, alles war voller Blut.
Sie hatte die Beine gespreizt.

Es sah grauenerregend aus.

Ein kleines, blutiges, hässliches Bündel schrie und schrie.

Es hing an einer dicken, langen Schnur an meiner Mutter.

Eine fremde Frau war im Zimmer. Sie war älter als meine Mutter.
Sie hielt mir eine Schere hin, ob ich die Schnur, die von dem Bündel zu meiner Mutter führte,
durchschneiden wolle.

Ich wollte nicht.

Mein Vater bedrängte mich, ich solle die Schnur durchschneiden.

Ich tat es nicht.

Er machte es dann selbst.

Sie waren alle sehr glücklich, es war maximal verwirrend.

Sie fuhren mir durch die Haare mit ihren blutigen Händen und waren froh.

Meine Mutter war so weit weg von mir wie noch nie.

Sie hatte mich nicht einmal angesehen.

Ich wollte zurück in mein Bett.

Mein Vater brachte mich zurück, blieb aber nicht
bei mir.

Später hörte ich Männerstimmen, die zur Tür rein kamen.

Irgendwann war Ruhe.

Heute vor 40 Jahren.





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