Freitag, 29. Mai 2015

Eines Morgens

Im Bett.
Allein.
Müde 
und mit rasendem Herzen.

Von draußen
unablässig
Baulärm.

Kindergeschrei.

Vögel in Parkbäumen.

Es passiert.






Wir Kriegskinder

"Ich werde mich nicht kümmern können,
das schaffe ich nicht mehr."
sagte meine Mutter
zur Geburt des Kleinen, heute drei Jahre alt.
"Warum schaut ihr euch nicht nach einer Leihoma um?"
sagte sie und verschwand in einen
mehrmonatigen
Erholungsurlaub auf die Kanaren.
Den brauche sie für ihren Umzug vom
Westen der Republik nach 
Berlin.

Sie hat sich dran gehalten 
und ihre Enkel
drei Jahre nicht besucht.

Letztens fragte der Große, 
der keine Großeltern außer ihr hat,
warum sie nie komme.

Ich sagte, sie schaffe es nicht mehr.

Er habe nämlich ein Gefühl für sie, sagte er und 
er wünsche sich, dass sie auf ihre Gesundheit achtet,
damit sie nicht so bald stirbt.

Dann hätte er gar keine Großeltern
mehr.

"Keine Sorge,"
sagte ich, 
"sie achtet gut auf sich."






Donnerstag, 28. Mai 2015

Bergisches Land

Unter
tiefschwarzen Maiwolken
innehalten im
frischgrünen
Buchenwald.

Drückende Hitze,
die Augenbrauen zusammengezogen,
ringsherum
explodiert die Natur,
wie jedes Jahr
von neuem.

Während ich auf diesem
alten
Pfad
seit einer Viertelstunde
stehe.








Feierabend

Die Kinder
rannten auf mich zu, als ich abends
nach Hause kam.
Der Kleine langsamer als der Große.
Ich nahm den Großen auf den Arm, der Kleine schrie.
Ich ließ den Großen wieder runter und nahm
den Kleinen hoch.
Der Große ging weg, eingeschnappt.

Es kam mir kurz anstrengend vor.

Aber dann war der Moment vorbei
und ich dachte:
schon morgen
würde es ihn
so
nicht mehr
geben.





Dienstag, 26. Mai 2015

Der Westen steht still

Der Westen steht still
abends gegen 19.00 in der
Kölner Innenstadt,
Ecke Pfeilstraße/Ehrenstraße,
wo
hinter dicken schwarzen Glasscheiben
im ersten Stockwerk im grünen Neubau auf der Ecke
Frauen Ende 30 bis Mitte 40
im "Ladyfitness" lautlos in
Pedalen treten,
draußen sämtliche Ladenfronten geschlossen sind,
im regnerisch kühlen Abend die
Schriftzüge
leuchten wie in jeder
verkehrsarmen Fußgängerzone
des nahen und fernen Westens:
American Apparel
Levi´s
Dolce&Gabana
Kamps
...,
reiche, alte, sehr gepflegte,
gebräunte Menschen
unter Heizpilzen
spritzige Alkoholgetränke trinken,
vier Schwule in engen Lederjacken
in ein teures Gebäude eilen, während einer von ihnen seinen Mopshund ausschimpft,
ein Familienvater in Funktionskleidung im Wert von rund 1.000 Euro
mit seiner ca. 10jährigen, bebrillten Tochter die menschenleere Straße überquert und sich dabei
dreimal
nach beiden Seiten umsieht und vergewissert,
dass nichts,
absolut
nichts,
passieren
kann.





Die wahre Unterwerfung

Er selbst stellt sich dar als der
untergehende
Westen.

So wie für Huysmans der
Katholizismus die Rettung
war,
wäre
dies für Houellebecq,
seinem
amüsantem Gedankenspiel
"Unterwerfung"
folgend,
also
der Islam.

Wäre.

Das letzte Kapitel komplett im
Konjunktiv.

Scheint zu hoffen,
auf lange Sicht
nicht auf Metaphysik
angewiesen
zu sein.

Man hört, er sympathisiere mit den Raelianern.

Hält der Westen noch zwei Jahrzehnte durch,
bis
Dr. Kurzweil
seine Visionen
realisiert hat,
dann
wird sich jeder,
der kann,
gegen
Geld
Unsterblichkeit
sichern.

Houellebecq könnte.

Houellebecq würde.





Sonntag, 24. Mai 2015

Groll hegen

Es ist leicht
erklärbar:
ich verachte
dich.

Dein
Egoismus
Narzissmus
Rassismus

Deine
Kälte
Herablassung
Gleichgültigkeit

Aber ich brauche dich.

Ich werde dich mit Wertschätzung
bestrafen.

Eines Tages wirst du dir
vergeben.

Und Gott
mir.





Samstag, 23. Mai 2015

Circus

Die Augen der Kinder 
leuchteten 
nicht.

Es gab nichts, worüber sie sich freuten oder
wunderten.

Geboten wurde:
Artistik unter der Zeltkuppel,
Löwendressur,
Elefantendressur,
Ein sehr guter, moderner Clown,
Rätselschaft gelenkige, wunderschöne Frauen mit Engelsflügeln,
Seelöwenspaß,
Pferdedressur,
Tanzartistik
und 
einiges mehr.

Neben mir ein Vater, der kindisch laut mitschrie
und dessen Kinder
mit Leuchtwertern spielten 
und nie in die 
Manege schauten.

Niemand kaufte ein Programmheft.

Die Kinder gingen an der Hand ihrer 
verzauberten Eltern
einfach raus
und 
schwiegen.

Wir werden uns wundern, was diese Kinder 
erschaffen werden.

Und wir werden uns
fürchten.





Pippi Langstrumpf

Gemeinsam mit den
Nachbarskindern
vor dem schwarz-weiß
Fernseher,
in dem man erstaunlicherweise
trotzdem
die roten Haare
sah.

Zu Zeiten einer angenehm
funktionierenden
Rundfunkdiktatur gab
es das noch:
Sendungen, die spannend waren
für Jungs und für Mädchen
gleichermaßen.

Ich mochte Pippis Wildheit und gleichzeitig
beschlich mich ein ungutes Gefühl:
Pferd hochheben und so...
sie konnte diese Dinge doch nicht
wirklich!
Warum log sie so viel?
Warum musste sie ständig im Mittelpunkt stehen?

Weil sich niemand um sie kümmerte,
ihre Eltern sie nicht liebten.

Allein in diesem verhüllten Haus.

Der Vater ein
dauerbetrunkener Proll-Hippie.

Gewalttäter.

Ihre zerstörerische Wut rührte von einem großen Verlust.

Sie war Opfer erwachsener Gefühllosigkeit in den absolut wahnsinnigen 70ern.

Sie war laut und frech, aber sie war nicht stark.

Jemand müsste sich um sie kümmern.

Das kannte ich
irgendwoher.





Freitag, 22. Mai 2015

Harald Schmidt

in irgendeiner Volksmusiksendung der
ARD
ist er aufgetreten und seine
Eltern waren
auch da.

Warum er sich das antat,
ist schwer zu ermessen.

Der Vater, ein verständnisvoller, feiner Mann, wie mir schien, sagte:
"Ich hab´ ihn nie geschlagen."
Die Mutter entgegnete:
"Ich dafür umso mehr".

Harald lachte.

Man konnte verstehen, warum bei ihm
alles
ironisch
gebrochen
war.






Donnerstag, 21. Mai 2015

Non vitae, sed scholae discimus

Mein Sohn ist
6 Jahre alt, 
blond, ein Schneidezahn fehlt.

In der Nachmittags-Betreuung, in die er gehen muss,
weil
seine Mutter und ich arbeiten müssen, 
damit wir es uns leisten können,
in einem Stadtviertel zu wohnen,
in dem nicht allzu viele Kinder aus 
sozial schwachen 
Familien wohnen 
und somit unser Sohn einigermaßen 
geschützt 
aufwächst,
ist er eher der Typ
Außenseiter,
weil er 
selten lacht.

Als ich ihn heute Nachmittag abholte, spielte er mit einem türkischen Jungen 
draußen Hockey. 
Mein Sohn schlug den Ball immer wieder über den Zaun 
auf die Straße.
Ich schimpfte laut über den Platz:
„Lass das, das ist gefährlich! Was ist, wenn ein Auto kommt?“
Er kam zu mir gerannt, was mich wunderte.

Normalerweise, wenn ich schimpfe,
rennt er weg.

Er kam zu mir gerannt und berichtete kurz und knapp, dass
Max aus der 4. sich heute als Mädchen angezogen hat, sich das Gesicht geschminkt hat und
immer wieder rief:
„Ich bin eine arschgefickte Prinzessin“.

Ich fragte, ob er wissen wolle, was das heißt und war bereit
zu lügen. 
Aber da war er schon wieder auf dem Hockeyplatz.

Es gibt nur wenige sozial schwache Familien in der Innenstadt,
dafür mehr Lebensentwürfe, die von der Norm abweichen,
was die Eltern, die ihre Kinder auf diese Schule schicken, begrüßen.


Hoffentlich begrüßt Max das auch.





Mittwoch, 20. Mai 2015

Regen

Früher Abend.
Ein heftiger Regen ging über den 
sattgrünen
Parkbäumen nieder.

Ich saß im Flur und schaute 
durch die offene Schlafzimmertür
durch das Schlafzimmerfenster
hinaus in das Unwetter.

Gleichmäßiges Rauschen hüllte alles ein.

Wie eine Katze 
kam mein Jüngster
angeschlichen,
lehnte sich an mich
und schaute mit mir raus.

Wir beide hatten noch nie an dieser Stelle
gesessen
und dabei den
Regen 
geschaut.







Dienstag, 19. Mai 2015

Kontakt

Gegen 19.00 Uhr
kam ich
endlich
aus dem Büro.

Ich fuhr mit dem Rad quer durch die Stadt
durch das einsetzende Unwetter
und hoffte,
kein Auto
würde mich
totfahren.

Es war plötzlich sehr dunkel geworden und ich hatte kein
Licht,
dafür aber eine
Frau
und zwei
Söhne,
die zu Hause auf mich warteten.

Als ich vor dem Miethaus ankam,
schloss ich mein Rad an den
Fahrradständer.

Es goss wie aus Eimern.

Ich war bereits bis auf die Haut durchnässt
und machte mir Sorgen um das Notebook
in meiner Umhängetasche.

Ich kämpfte mit dem Fahrradschloss.

Ein Fremder kam und schloss
neben mir ebenfalls sein Rad ab.

Er kämpfte ebenfalls mit dem Schloss und wurde dabei
gründlich nass.

Er lächelte mir kurz zu.

Ich lächelte kurz zurück.

Hätte die Sonne geschienen,
hätte sich jeder an die übliche,
eisige
Nichtbeachtung
gehalten.

Nur in der Krise sind wir menschlich.





Sonntag, 17. Mai 2015

Sinalco

Mit meinem Vater unterwegs
als
Vierjähriger
in der Felswand
über der Flussschleife.

Ein schmaler Weg, nur stellenweise mit Geländer:
weit oben die
wuchtige Kaserne,
unten schoss der Fluss
schäumend
Richtung Stadt.

Riesige Felsbrocken lagen im Wasser,
größer als ein Auto.
Ich klammerte mich an die Hand meines
Vaters und fragte ihn nach den
Felsbrocken.

Er zeigte auf ein angerostetes Schild,
das vor fallendem Geröll warnte.

Er sagte, diese Brocken stürzen
wenn der Winter zu Ende ist
aus der Feldwand und rollen in den
Fluss.

Ich hatte Angst und ich spürte:
auch ihm waren die neuen Brocken
unten im Fluss nicht geheuer.

Er sagte, wir müssten ganz leise sein,
dann könnten wir die Felsen hören,
wenn sie den Hang hinunter stürzen und
rechtzeitig ausweichen.

Ich klammerte mich fester an seine warme, trockene, rissige Hand
und spürte plötzlich,
wie jung ich noch war.

Schweigend gingen wir rasch weiter
an diesem Märztag.

Die Vögel in den Hangwäldern
sangen
lauter als sonst.

Nach etwa einer Stunde
erreichten wir
die Gastwirtschaft
unten an der Flussbiegung.

Wir setzten uns
draußen auf eine
Holzbank.

Die Bedienung kam.

Ich wollte eine Limo und rechnete mit Widerstand.
Normalerweise bekam ich nie Limo,
meine Mutter wollte das nicht, wegen der Zähne und
der
Gesundheit.

Mein Vater kaufte sie mir ohne Zögern
und trank selbst ein Bier, was er sonst nie tat.

Wir saßen lange auf der Bank in der brennenden Sonne.

Mein Vater und ich.







Freitag, 15. Mai 2015

Das Problem der Liebe

Auf einer Skala von eins bis zehn, wie sehr liebst du mich?
fragte sie,
bereits im Schlafanzug,
und schmiegte sich auf der Couch an mich.

Ich las Houellebecq und das Buch war sehr gut.

10 sagte ich,
um meine Ruhe zu haben.

So würden wir es 
weitere
26 Jahre aushalten 
können.





Donnerstag, 14. Mai 2015

Hamburg

Maigrünes Gras zwischen den
feuchten
Backsteinmiethäusern
flattert
im Wind.

Autos zischen
auf vier Spuren durch die
leicht gewölbte
Stadt.

Kühle Wolken ziehen
rasch
über Hafen
und Hochbahn.

Männergruppen, weiter weg, grölen,
kotzen in
Mülleimer.

Frierende Afrikaner
in Kapuzenpullis
aus Baumwolle
sitzen auf Treppen
und blicken der auslaufenden
AIDAluna
nach.





Sonntag, 10. Mai 2015

Sibylle Berg

Element of crime
Rammstein
Philipp Boa
seien auf diesem Hörbuch
zu hören,
hab´ ich im
Wikipedia-Eintrag gelesen.

Dumpfer Gruftie-Müll
und
Smart-Ass-Shit,
eins zu eins von
Dylan
übernommen,
minus
den Horizont und Verirrung in der
Metaphysik
- nein, nein, das ist nichts mehr für uns -
da wissen wir heute
mehr.

Ich mochte die frühe Phase.
"Ein paar Leute suchen das Glück..."
Auf dem Weg zur deutschen
Houellebecq.

Aber
er hat,
erkannt
wenn auch nicht ganz
akzeptiert,
was ihn zerstört hat.

Es ist hart, wahrhaftig zu bleiben,
wenn man Erfolg hat.
Man wird sein eigener Gott.
ein Promi.

Ich kann davon kein Lied singen.

Früher, als ich zitternd
"Ein paar Leute..." las,
war es eher Gun Club, hab´ ich mal irgendwo gelesen.
Jeffrey, auf dem Amoklauf zur Erlösung:
https://www.youtube.com/watch?v=eMpzFL2IKoE

So müsste es sein.

Aber es kostet.

Mir wärs zu hart.





Maiabend

Zu Hause.
Ich hatte wenig
geschlafen
in der
vorherigen
Nacht.

Die Maisonne hatte
den ganzen Tag herunter
geknallt,
ich war mit den
Jungs
im Rheinpark
gewesen.

Jetzt lag ich k.o.
im Bett
- nur eine halbe Stunde, bevor es ins Büro geht
zum Schreiben -
und hörte mir das
Geschrei
an, dass üblicherweise zwischen
den Jungs
und
der Frau
jeden Abend
und auch jeden Morgen
durch die Wohnung
jagte.

Draußen wogten sich die sattgrünen
Baumspitzen
im Abendwind, die Blätter
flatterten und
flirrten
im blaudunklen Himmel
als wollten sie mich
verspotten.

Na, wie lange noch?

Das Kichern des
Universums.





Freitag, 8. Mai 2015

Rassismus

Mein Sohn war fünf oder so,
als er sich für Fußball zu interessieren begann.
Er durfte zum ersten Mal ein Länderspiel
sehen und wurde Zeuge,
wie Cacau gegen Frankreich ein wichtiges Tor schoss.


Cacau
war sein Held.

Irgendwann kaufte ich ihm dann das Trikot der
Nationalmannschaft.

Und er stellt sich darin vor den Spiegel,
klein, blond, blauäugig und sagte:

"Ich bin Cacau."

Ich überlegte kurz, ob ich ihn auf 

Unterschiede 
aufmerksam
machen sollte.

Und ließ es bleiben.

Ich hatte meine Lektion gelernt.




Schmidt Schnauze

Als ich Kind war,
saß ich auf der Couch an der Wand,
mein Vater
im Schaukelstuhl und meine Mutter
in einem
Sessel
nah am Fernseher.
Mein Vater vertraute Schmidt,
weil er wie mein Vater
norddeutsch war,
langsam und
überdeutlich redete und
alles wusste,
meistens sogar
besser.
Mein Vater entkam dem Sumpf
seiner proletarischen Herkunft
durch das Bildungsprogramm der SPD.
Die SPD war heilig bei uns.
Kohl mochten wir nicht.
Obwohl Kohl Pfälzer war und mein Vater ja dort wohnte
mit uns.
Obwohl Kohl Achate sammelte,
wie mein Vater.
Und er diese, wie mein Vater vor die gelesenen
Bücher
ins Regal sortierte.
Obwohl Kohl
immer Hauspantoffeln trug,
wie mein Vater.
Obwohl Kohl eine Geliebte hatte, wie mein Vater
und
wie wir wissen,
wie Schmidt.
Der seine Frau nie verlassen
hat,
wie mein Vater.
Was ein Fehler war, aber das ist eine andere Geschichte.
Als Schmidt 1982
aufstand und rüber ging zu
Kohl und diesem
gratulierte,
war es still im Wohnzimmer.
Mein Vater hatte Tränen in den Augen.
Meine Mutter sagte etwas Abfälliges und ich dachte,
das Ende der Welt sei gekommen.
Mein Vater ist tot,
Kohl kann nicht mehr mitmischen
nur Schmidt -
wie eh und je.





Donnerstag, 7. Mai 2015

Der Riss

ich war fünf Jahre alt,
vielleicht auch noch vier.
Mein Vater und meine Mutter hatten einen
Schrebergarten
gemietet in der Nähe des
Sportplatzes.
Man ging ein paar Stufen runter,
die Parzellen waren
ringsum von dichtem grünem Wald
eingeschlossen.
Ein hoher Stacheldrahtzaun umgab das
Gelände.

In der Nähe war der Truppenübungsplatz,
man hörte
Geschützdonner,
auch am Sonntag.

Es war Sonntag, ungewöhnlich heiß.

Mein Vater hatte sein enges, blaues,
kragenloses Hemd aus Polostoff an und
grub stoisch mit dem kleinen, aber scharfen Spaten
die Beete um.

Obwohl er nicht sehr groß war,
sah er aus wie ein starker Mann,
mit seinem Bart, seinen Bizeps
und seiner schlechten Laune.

Ich hatte Durst, aber es gab nichts zu trinken.

Ich langweilte mich.

Ich wollte auch etwas machen.

Ich nahm mir den
Seitenschneider,
den er mir morgens stolz demonstriert hatte,
schlich mich in den mit hohen Gräsern bewachsenen Graben vor dem Zaun
und begann diesen
durchzuschneiden,
Draht für Draht.

Bald hatte ich ein großes Loch hineingeschnitten.
Ich ging hindurch und lief runter zu dem kleinen Bach
in dem Waldstück neben den
Gärten und spielte dort eine Weile am
kühlen
Wasser.

Als ich zurück kam sah mich Herr Brenkmann,
der auf der benachbarten Parzelle stand und
rauchte.

"Hey, hast du das Loch in den Zaun geschnitten?"

Er konnte es nicht fassen.

Ich log nie und sagte "Ja!"
und rannte zu meinem Vater.

Mein Vater sah das Loch im Zaun, auf das der Nachbar deutete und wurde
unglaublich wütend.
Völlig verzweifelt schlug er mich immer wieder auf den
Hosenboden.
Ich machte keinen Mucks,
vor anderen weinen,
das macht kein
Indianer.

Mein Vater kam aus ärmlichsten Verhältnissen.
Seefahrer.
Schiffsköche.
Besitzlose Kleinbauern, die für jemand Reiches
eine Stückchen Land
bewirtschafteten.
Leute, die an Krankheiten starben, die durch Mangelernährung hervor gerufen wurden.

Mein Vater war so stolz, dass er der erste in seiner Familie war mit einem Haus.
Mit einer schönen Frau.
Mit einem Schrebergarten.
Kindern, dies besser haben sollten.

Er schämte sich für mich.
Er schämte sich vor den anderen Nachbarn, die jetzt am Zaun standen und das Loch begutachteten.

Er hatte ein
böses Kind
hervorgebracht.

Ich lief davon,
versteckte mich in dem frisch grün gestrichenen Schrebergartenhaus,
das er selbst gebaut hatte.

Es war das armseligste auf dem ganzen
Gelände.

Ich verkrümelte mich unter der Werkbank
bis es dunkel wurde.

Dann kam er rein und sagte kein Wort.

Ich kroch hervor und wir gingen nach
Hause.

Er hatte Mutter nichts gesagt.

Und ging nur noch selten in den
Garten.





Mittwoch, 6. Mai 2015

Pauschalurteil

In jedem Studentenviertel des Landes
gibt es diesen griechischen
Gyros-Imbiss, in dem die Zeit still
steht.
Alles sieht aus wie 1976.
Oft wird damit sogar geworben.
Fast
nichts hat sich seit den
heißen Sommern der Siebziger
verändert.

Frittenfett legte sich über
die mediterrane Dekoration.
Fischernetze, Aphrodite, Akropolis usw.
duften nach Fett und Fleisch:
Umamigeruch - eigentlich
lecker.

Oft pappt irgendwo noch ein
Friedenstaubenaufkleber.

Ich finde es sympathisch,
nach einer gefundenen Wahrheit
zu leben und einfach nichts mehr zu ändern.

"Alexis Sorbas" ist möglicherweise der
einflussreichste Film
aller Zeiten - die Zerstörungskräfte der
Kultur.

Die Beharrungskräfte der Kultur.

Das Ende einer Kultur.





Dienstag, 5. Mai 2015

Unterm Dom

Stühle flogen über den
Bahnhofsvorplatz.

Die Luft war feucht und warm.

Ein bedeutender Verleger hastete aus seinem Gebäude
gemeinsam mit einem
weiteren Mann
um die Ecke
zum Business Lunch
ins Gaffel Brauhaus.

Eine Kellnerin flirtete mit mir,
ich war perplex
ob meiner
Schlagfertigkeit.

Mein Kollege saß mir gegenüber und stand auf, weil ein Schirm drohte,
davon zu schleudern,
in den Böen.

Mein Kollege litt an einer Kifferpsychose.
Sein Gehirn funktionierte nicht mehr richtig.
Er konnte keine Entscheidungen treffen,
starrte
düster und gab mir das Gefühl,
ich wäre ein
Feind.

Die Bedienung im Cafetiero sog an ihrer Zigarette
und rührte sich nicht,
als zu
trauriger italienischer Musik ein Fahrrad
umgeweht wurde und beinahe auf einen
der draußen an den Tischen
sitzenden Kunden
fiel.

Alles
fliegt auseinander
in diesem
heißen, feuchten,
windigen Frühlingstagen.

Ich will es nicht ändern.






Montag, 4. Mai 2015

Sommer im Keller

Im Keller unseres
mittlerweile verkauften
Einfamilienhauses
lagerten diese rätselhaften Kartons,
mit Paketband verschnürt.

An heißen Sommertagen war ich gern dort
unten.

Ich war zehn, sägte an Vaters Werkbank Schiffe mit der Laubsäge aus.

Und irgendwann öffnete ich die Kartons.
Es waren alte Modezeitschriften meiner Mutter.

Für Sie
Brigittte
Madame

Ich blätterte in den Zeitschriften und sah die vielen schönen Frauen.
Diejenigen mit den schwarzen Haare und den blauen Augen
sahen aus wie
meine Mutter.

Die Frauen wirkten glücklich, strahlend, zufrieden.
Ich mochte diese Frauen.

Schnittmusterbögen fielen aus den Zeitschriften.
Die hatte ich früher schon gesehen, wenn meine Mutter nähte.
Meine Mutter konnte nach solchen Anleitungen Stoffe zuschneiden.
Sie war nicht nur einmal schön gewesen, sondern auch ein
Genie.

Das war schon länger her.
Meine Mutter hatte sich verändert.
Sie schrie viel, ließ sich gehen, nahm zu, schneiderte nicht mehr.
Im Gegensatz zu den Frauen in den
Zeitungen war sie
unglücklich.

Immer wieder ging ich in den Keller und schaute mir die schönen Frauen an,
das schöne Leben, das sie hatten.
An Stränden, in großen Häusern, in Gärten.
Die aus den Werbungen, z.B. für Seife-Atlantik gefielen mir am besten, sie waren oft
nackt, einfach so.

Ich war traurig, dass meine Mutter, sich nicht mehr für die Zeitschriften interessierte.
Ich fragte sie, warum sie die aufgehoben hatte.
Sie sagte, das wisse sie selbst nicht mehr
und schmiss sie
weg.

Meine Mutter hatte ich zerstört,
nun warteten die Frauen
aus den Zeitschriften.






Sonntag, 3. Mai 2015

Frühling 154605

Vor dem Fenster
roter
Gemeinderathausbackstein,
frisch grüne
Parkplatzbuchen,
Regenschwaden.

Angelaufene Betondecken
stützen
Parkhausebenen.

Beinahe waagrecht
nun die Regenschwaden,
lautlos.

Neonröhren.

In den Siebzigern
baute man
für alle
für immer.

Das ist vorbei.







Samstag, 2. Mai 2015

Prophezeiung

Sie werden
das
nicht akzeptieren.

Das Nichtakzeptieren nicht akzeptieren.

Nur wenige Tote später
werden wir
dann
akzeptieren,
was nicht zu
akzeptieren
ist.





No bollocks!

Um mein Studium zu finanzieren, arbeitete ich bei der Post
Nachtschicht.
Güterwagen voller Pakete trafen nachts an der langen Rampe
ein, wir zogen erst die Rollwagen der Firma Cordes,
Cordesse
genannt, aus den Zügen, schoben sie zu einer im Boden eingelassenen Metallrutsche und
begannen dann damit, die nächste Stunden in
Eiseskälte und schneidendem Wind
die Päckchen und Pakete des gesamten Bundeslandes
nach unten zu werfen.
Es war unerbittliche Knochenarbeit.
Viele die da mitmachten, kamen aus den
Kohlengruben
und konnten
schuften wie Ochsen.

Ich hatte lange Haare, Stirnband, viele Worte aber
wenig Muskeln.
Außerdem war ich unbeliebt,
weil ich eine
Zukunft
hatte.

Mein einziger Kumpel hieß
Manuel,
war wie ich Anfang 20
und war der einzige der zu Schichtbeginn immerhin ein
"Hey" raus quetschte, wenn er mich sah.
Er hatte nicht einmal einen
Hauptschulabschluss aber einen guten Humor.
Um Mitternacht zogen wir aus einem Automaten je 5 Lange.
Zweieinhalb Liter Bier, um bis morgens durchzuhalten.

Auf jeder Ebene der Paketabfertigung dudelten Radiorecorder.
Für jemanden, der in einer Band spielte und wusste, wer z.B. Mudhoney waren, war es die Hölle.
Genesis, Madonna, Michael Jackson, Queen.
Höllisch glatter, verstörend dummer Bombast.
In Glitzerfolie verpackte
Neurosen.
Krank, selbstmitleidig, verlogen, geldgeil wie die Achtziger.

Dann kam Manuel mit einer Kassette an.
Er brüllte, die sei Nummer1 in den USA,
erfolgreicher als Michael Jackson! und legte das Nevermind-Album ein.

Ich hatte die CD schon länger und hörte sie rauf und runter,
in meiner Welt.

Ich wunderte mich, dass Manuel es riskierte, vom
Stumpfsinn der Anpassung abzuweichen.
Das würden die anderen nicht verstehen.
Aber immer mehr Arbeiter kamen und hörten das
donnernde Schlagzeug, die unglaublichen Riffs
und
den ungefilterten Zorn des von seiner Familie verstoßenen
Kurt Cobain.
Wir hörten drei oder vier Stücke.

So muss es gewesen sein, als sich in den Fünfzigern im Süden der USA Menschen um Radios versammelt haben, um
Elvis
zu hören.





Freitag, 1. Mai 2015

1. Mai

Wir lagen im Bett,
damals.

Im Zimmer zur Straße raus,
mitten in der Innenstadt.

Wir waren jung, müde, verkatert, nackt.

Es war bereits Mittag.
Aus der Ferne Blaskapellen.
Uns fiel ein: 1. Mai.

Abstumpfender
Lohnarbeit
gingen wir nicht nach und wollten das auch
zukünftig
nicht tun.

Und wenn wir es müssten,
wären wir sicher nicht Teil
dieser abstoßenden
Gewerkschafts-Ästhetik.

Das ging uns nichts an.

Die Kapellen kamen näher,
der Himmel riss auf und
warmes Frühjahrslicht fiel durch die breiten Lamellen
der Holzjalousien.

Eine Gruppe Blechbläser spielte direkt unter unserem Fenster
eine überirdisch schöne Melodie: einfach, sentimental,
voller Hoffnung und Freude,
strahlend.

Und in diesem seltsamen, nie wieder gehörten,
unglaublichen Moment perfekter Musik
verschmolz der draußen spazierende Glaube an die Kraft der
Menschlichkeit und Zusammengehörigkeit
mit unserer egoistischen, kleinen
Privatliebe.

Für einen kurzen, niemals vergessenen Augenblick schien es
menschenmöglich,
gemeinsam
alles zu erreichen.





K.

Mit spöttischem Lächeln
beschirmst du dein
großes Herz.

Du hast alles, was es braucht für 
irdisches Glück.
Kultur, Geld, Aussehen, berühmte Freunde.

Alles, was wir beide suchen.

Aber ich will mehr.


Und akzeptiere 
Unglück.