Mittwoch, 3. Juni 2015

RAF

1977 war ich neun Jahre alt.
Heimlich schaute ich Nachrichten, wenn meine Eltern
glaubten, ich sei
im Bett.

Immer wieder das Bild des dicken Mannes,
hinter ihm ein Stern und ein
Gewehr.

Er sah traurig aus, und man sah ihm die Angst an.

Der Nachrichtensprecher versuchte neutral zu sein,
seine Stimme war trocken und sachlich wie die des richtenden Schicksals
selbst.

Alle redeten darüber.

Niemand glaubte an ein gutes Ende.

Es war ein warmer Frühherbst und wir Kinder draußen spielten
RAF.
An den endlos langen Nachmittagen im Wald und auf den von Dornensträuchern
umstandenen
Heidelichtungen.

Wir hatten Holzgewehre und taten so, als wären es echte Gewehre,
wie die auf den Bildern.

In den Siebzigern waren die Kinder sich selbst überlassen,
man glaubte an an das prinzipiell Gute in ihnen und dass sie
von Natur aus kreativ seien.

Die einen in waren die Coolen,  die Bösen, die RAF
und die mussten die Uncoolen fangen, den Dicken und seine Freunde.

Wenn sie sie gefangen hatte, durften sie die Uncoolen
fesseln und
ein wenig
quälen.

Alle sagten, der Dicke war böse und hatte verdient,
was ihm passierte.

Ich hoffte, dass er nicht starb,
abends
betete ich für
ihn.

Was Kinder so machen...

Als ich nach ein paar Wochen meine Eltern fragte, was
mit ihm passiert sei, wichen sie aus.
Da wusste ich: sie hatten ihn umgebracht.

Die Mörder kamen mir vor
wie die bösen Kinder,
nur mit
echten Gewehren.

Der Dicke tat mir unendlich leid.

Später dann, als ich erfuhr, warum die Coolen ihn geschnappt hatten
- eine Zeit lang -
nicht mehr.



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